Für manche ist sie im Lauf der Jahre zum Freund
geworden, andere fremdeln noch heute mit ihr: Die Vertrauensarbeitszeit. Seit
Monaten sorgt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes
in Luxemburg (EuGH) für Wirbel und die Wiedereinführung der generellen Arbeitszeiterfassung
– wenn auch unter veränderten Vorzeichen.
Wir informieren Sie in dem nachfolgenden Beitrag nochmals über den dem Urteil zugrunde liegenden Rechtsstreit, den Ist- und Soll-Zustand der Vertrauensarbeitszeit sowie die Auswirkungen des Urteils für die EU-Staaten.
Achtung, Spoileralarm! Unser Folgeartikel Das BAG und die generelle Zeiterfassung: Ein Paukenschlag? greift die aktuellen Diskussionen um das EugH-Urteil auf, die durch eine Urteilsbegründung des Bundesarbeitsgerichts in einem anderen Rechtsfall im September 2022 neu aufgeflammt sind.
Zwei Punkte vorweg: Panik ist nicht angebracht. Es liegt zwar in der Natur juristischer Entscheidungen, dass diese je nach Standpunkt polarisiert, interpretiert und kommentiert werden. Ohne Meinungsverschiedenheiten käme es schließlich gar nicht erst zu den Streitigkeiten, welche ein richterliches Urteil erfordern. Bei aller Interpretationsfreiheit ist die von einigen empfundene Angst vor einer Reaktivierung der veralteten und im Keller verstaubenden Stechuhren jedoch unangebracht.
Auch bedeutet das EuGH-Urteil keine generelle Abkehr
von der Vertrauensarbeitszeit. Vielmehr offenbart es, wie unterschiedlich das
ihr zugrunde liegende Konzept bislang aufgefasst wurde. Denn das Vertrauen eines Arbeitgebers in seinen Mitarbeiter,
Aufgaben innerhalb seiner Arbeitszeit mit Elan und Sorgfalt nachzugehen, wird durch
deren Dokumentation ja nicht diskreditiert. Und niemand wird dem Arbeitgeber später
vorschreiben, diese Aufzeichnung einzusehen. Das Vertrauen bleibt also. Wenn es
denn vorhanden war.
Solche und ähnliche Argumente von Kritikern
begleiteten seinerzeit die Einführung der Vertrauensarbeitszeit und den
Abschied von antiquierten Stechkartensystemen. Dabei erwies sich die
Befürchtung mancher als unbegründet, die vertraglich vereinbarten Arbeitszeiten
würden unterschritten, sobald sie nicht mehr dokumentiert werden. Im Gegenteil:
Die Zahl der geleisteten Mehrarbeitsstunden stieg nach Abschaffung starrer
Arbeitszeiten sogar an. Deutschlandweit lag sie im vergangenen Jahr laut Auskunft
der Bundesregierung bei über 2 Milliarden Stunden.
Ursprünglich hatte die Vertrauensarbeitszeit neben einer Senkung der Personalkosten zum Ziel, den Anforderungen einer modernen Welt Rechnung zu tragen, die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie erfordert. Die Flexibilität sollte erhöht, die Eigenverantwortung - und damit die Motivation - der Arbeitnehmer gesteigert werden.
Deren Arbeitgeber schenkten ihnen das Vertrauen, ihre vertraglich vereinbarten Arbeits- und Ruhezeiten auch ohne kontrollierende Instanzen einzuhalten und sich im Rahmen dieser Vorgaben selbst zu organisieren. Mehrarbeit sollte nicht mehr für Extra-Urlaubstage angehäuft, sondern in kleinem Umfang mit einem Zeitausgleich kompensiert werden.
In Deutschland musste
bislang denn auch nur die Arbeitszeit dokumentiert werden, welche über die
Regelarbeitszeit von 8 Stunden täglich hinaus geleistet wurde. Diese Praxis ist
laut des Urteils des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg (EuGH) jedoch unwirksam.
Wie, so die Ausgangsfrage des Urteils, soll man Mehrarbeit erfassen, wenn
weder die reguläre Arbeitszeit von maximal 48 Stunden pro Woche noch Ruhezeiten
von täglich mindestens 11 Stunden dokumentiert werden? Es sei daher
erforderlich, Arbeitszeiten innerhalb der EU künftig exakt zu erfassen.
Grundlage des Urteils war ein Rechtsstreit
zwischen einem Arbeitnehmer und einer spanischen Tochterniederlassung der
Deutschen Bank.
Der Arbeitnehmer berief sich auf die EU-Richtlinie 2003/88 EG, welche nicht nur unter anderem Ruhe- und Pausenzeiten, sondern auch die Einhaltung der damit verbundenen Schutzvorschriften regelt. Ursprünglich vor der Audiencia Nacional verhandelt (dem Nationalen Spanischen Gerichtshof), wurde die Streitsache von dieser schließlich dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt.
Noch hat das
Urteil keine konkreten Auswirkungen für Unternehmen. Denn der Europäische
Gerichtshof stellt es jedem EU-Staat frei, wie er dieses national umsetzt.
Unabhängig davon sei die Einhaltung und Dokumentation von
Höchstarbeitszeitgrenzen und Ruhezeiten jedoch ein Grundrecht von Arbeitnehmern
innerhalb der EU, welches es zu wahren gilt.
Für die EU-Mitgliedsstaaten bedeutet dies nicht nur, nationale Gesetzesentwürfe für die Erfassung von Arbeitszeiten diverser Branchen vorzulegen, sondern auch Ausnahmeregelungen (z.B. für Kleinstbetriebe) zu schaffen und Berufe zu berücksichtigen, deren Arbeitszeit generell schwer zu dokumentieren ist. Auch Home-Office wird besondere Berücksichtigung finden.
Selbst für die mit künftigen Gesetzesvorlagen konfrontierten Politiker beginnt der Arbeitstag bereits vorm Frühstück mit E-Mails und der Lektüre diverser Tageszeitungen. Journalisten sind zu jeder Zeit auf der Suche nach Stories, und vielen kreativen Freiberuflern, Beratern oder Dozenten sind geregelte Arbeitszeiten ohnehin fremd. Dem EuGH-Urteil zufolge müsste künftig jede Recherche, jedes Telefonat und das Checken von beruflichen E-Mails im Zug zeitlich erfasst werden.
Apropos Politiker. Die deutsche Regierungskoalition zeigt sich in ihrer Meinung über das Urteil des Europäischen Gerichtshofes gespalten.
Während
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) eine umfassende Arbeitszeiterfassung
als notwendig begrüßt, um die Rechte der Beschäftigten zu sichern, möchte
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) zunächst noch ein
Rechtsgutachten in Auftrag geben, um die Frage nach einem konkreten
Umsetzungsbedarf zu klären. Je nach Ergebnis des Rechtsgutachtens soll ein Vorlageverfahren
angestrengt werden. Das Ergebnis des Gutachtens liegt derzeit leider noch nicht vor. Wir
halten Sie aber natürlich auf dem Laufenden.
Übrigens ist die Arbeitszeiterfassung in vielen Branchen längst üblich. So würden beispielsweise Krankenhäuser oder Rettungsdienste ohne eine exakte Regelung der Dienstzeiten nicht funktionieren. Ferner bestehen umfängliche Aufzeichnungspflichten im Gaststätten- und Hotel-, Bau-, Speditions- und Transportgewerbe sowie in vom gesetzlichen Mindestlohn betroffenen Betrieben.
Darüber hinaus können nach derzeitiger Rechtslage deutsche Aufsichtsbehörden auch ohne EuGH-Beschlüsse bereits eine so genannte „Total-Aufzeichnung“ in Betrieben anordnen, welche die arbeitsschutzrechtlichen Bedingungen nicht oder nur unzureichend einhalten.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) äußert Kritik an dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes. "Wir Arbeitgeber sind gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert", heißt es in einer Stellungnahme. "Auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 kann man nicht mit einer Arbeitszeiterfassung 1.0 reagieren." Vereinzelt macht gar der Begriff "Rückfall in die Steinzeit" die Runde.
Dem gegenüber begrüßt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) das EuGH-Urteil als Grundlage für eine faire Dokumentation auch jener Tätigkeiten, welche bislang nebenbei in der Freizeit erledigt und somit nicht als Arbeitszeit bewusst wahrgenommen wurden. So werde der "Flatrate-Arbeit" ein Riegel vorgeschoben, wie Annelie Buntenbach, Mitglied im Bundesvorstand des DGB, betonte: "Statt mit der Stechuhr könnte man heutzutage schließlich per Smartphone und App die Arbeitszeit dokumentieren."
Werfen wir doch mal einen Blick hinüber zu unseren EU-Nachbarn. In Italien oder Österreich ist eine generelle Arbeitszeiterfassung verpflichtend. Der französische Gesetzgeber schreibt diese zumindest für jene Arbeitsverhältnisse vor, die keinem horaire collectif (=kollektiver Schichtplan) unterliegen.
Es bedarf jedoch keiner Stechuhr, um in der Arbeitswelt 4.0 die Einhaltung dieser gesetzlichen Bestimmungen zu gewährleisten. Im österreichischen Arbeitszeitgesetz (AZG) heißt es: "Der Arbeitgeber hat zur Überwachung der Einhaltung der in diesem Bundesgesetz geregelten Angelegenheiten in der Betriebsstätte Aufzeichnungen über die geleisteten Arbeitsstunden zu führen."
Um diese Anforderung zu erfüllen, erfassen die
Mitarbeiter Ihre Arbeitszeiten selbst mit Hilfe von Apps oder Tools. So haben
Sie ihre Zeiten im Blick und für den Fall eines Rechtsstreits oder einer
Überprüfung durch Aufsichtsbehörden jederzeit parat. Darunter leidet aber weder
ihre Selbstorganisation noch das Vertrauensverhältnis zu ihren Arbeitgebern. Auch
dies ist Arbeitswelt 4.0.
Arbeitsrechtler sehen in der Auflage zur Arbeitszeiterfassung sogar unerwartete Chancen für Start-Ups, den Vorgaben entsprechende Software zu entwickeln. Dabei gibt es die längst – zum Beispiel in Form des selbsterklärenden Online-Dienstplans biduum® der SIEDA GmbH.
Nein. Denn die Erfassung geleisteter Arbeitszeiten kollidiert nicht mit dem der Vertrauensarbeitszeit zugrunde liegenden Gedanken der Eigenverantwortung und Flexibilität. Durch Dokumentierung ihrer Arbeitszeiten geben die Arbeitnehmer ihre Souveränität ja keineswegs preis. Möglicherweise steigert der bessere Überblick über ihre tatsächlich geleisteten Zeiten sogar ihre Lebensqualität durch weniger Mehrarbeitsstunden. Und somit die von Arbeitgebern gewünschte Motivation.
Das Vertrauen eines Arbeitgebers in seinen Mitarbeiter hängt nicht von europäischen oder nationalen Urteilen ab, sondern von der Wertschätzung, mit der beide einander begegnen. Diese wird wie erwähnt nicht dadurch untergraben, dass die bislang "gemerkten" Arbeitszeiten künftig genau erfasst werden. Vielmehr schafft man mit diesem Instrument eine für beide Seiten verlässliche Rechtssicherheit.
Insofern kommt der Abgesang auf die Vertrauensarbeitszeit also verfrüht. Sicher, das Dokumentieren von Arbeitszeiten bringt Kosten und Verwaltungsaufwand mit sich. Doch dank moderner Zeiterfassungssysteme dürfte sich beides in Grenzen halten. Und vielleicht in Zukunft teure Rechtsstreits wie denjenigen vermeiden, welcher dem EuGH-Urteil zugrunde lag.
So bedeutet das Urteil aus Luxemburg also keine
Diskreditierung, sondern je nach Sichtweise sogar eine Aufwertung der
Vertrauensarbeitszeit. Demnach sollte es nicht heißen: "Mach’s gut!" Sondern
vielmehr: "Machen wir’s künftig besser."
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt hat am Rande eines Urteils am 13. September 2022 festgestellt, dass das EuGH-Urteil von 2019 bereits eine gesetzliche Vorgabe zur Einführung einer generellen Erfassung geleisteter Arbeitszeiten darstelle. Arbeitgeberverbände und die Politik zeigten sich hiervon überrascht und reagierten mit Empörung. Lesen Sie alles über die neuesten Entwicklungen in unserem Blog-Beitrag Das BAG und die generelle Zeiterfassung: Ein Paukenschlag?
Probieren Sie doch einfach mal den selbsterklärenden Online-Dienstplaner biduum® der SIEDA GmbH aus. Dieser ist vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen geeignet und kann kostenlos und unverbindlich getestet werden. Mit biduum® können Dienstpläne erstellt und eingesehen sowie Urlaube beantragt und genehmigt - und, nicht zuletzt, die Arbeitszeit erfasst werden. Damit das EuGH-Urteil seinen Schrecken verliert.
Vertrauen, Wertschätzung, Achtsamkeit, das Berücksichtigen von individuellen Lebensphasen und ein gutes Betriebsklima sind Garanten für motivierte Mitarbeiter. Diese sind beim betrieblichen Ausfallmanagement hilfreich - insbesondere, wenn sie sich aktiv in die Dienstplanung einbringen können. Was wiederum eine stärkere Identifikation mit der eigenen Tätigkeit und dem Unternehmen zur Folge hat - ganz im Sinne der Idee von New Work.
Fotos: SIEDA/FOTO by Sousa - iStock.com/Jan-Otto - iStock.com/master1305
- iStock.com/gorodenkoff - iStock.com/wildpixel - iStock.com/Fokussiert - iStock.com/emyerson
- iStock.com/Alessandro Biascioli - iStock.com/pixelfit
Sehr schön geschrieben - beziehungsweise dargestellt -, lieber Holger. Fundiert, verständlich, kompakt. Klasse!
Danke für die klare Darstellung - ich befasse mich beruflich regelmässig mit dem Thema der Arbeitszeiterfassung.
Klar und deutlich beschrieben!!
Vielen Dank Herr Montag