Pflege ist sexy - so lange sie dem eigenen Körper gewidmet ist. Ein großer Teil der täglich konsumierten 10.000 Werbebotschaften gilt denn auch diversen Pflege- und Kosmetikprodukten. Durch die Flut dieser sich ähnelnden Botschaften leiden Konsumenten allerdings mehr und mehr an Werbeblindheit, nehmen sie und die jeweils beworbenen Produkte also längst nicht mehr bewusst wahr.
Ein Schicksal, das auch die Berichterstattung über die andere Pflege betrifft. Die, welche sich mit der Betreuung hilfsbedürftiger, kranker und alter Menschen beschäftigt. Und die gemeinhin nicht als sexy gilt. Die regelmäßig in Dokumentarbeiträgen, Talk-Shows und unserer Wahrnehmung auftaucht – und doch wieder in Vergessenheit gerät, sogar in der pflegeintensiven Corona-Zeit. In der Berichte über erschwerte Arbeitsbedingungen, geplatzte Tarifverträge und Fachkräftemangel rasch durch andere, aktuellere Informationen ersetzt werden.
Vieles spricht dafür, dass die meisten von uns früher oder später auf die Dienste von Pflegekräften angewiesen sein werden. Diese These wird von den meisten Menschen aber ähnlich tabuisiert wie die einzige Gewissheit im Leben: Dass alles Lebendige vergänglich ist - und wir alle irgendwann sterben werden.
Dem entsprechend, zählt Pflegebedarf zu den Dingen, die man gemeinhin in den Hinterkopf und aus dem Gedächtnis verbannt. Wie die eigene Grabstelle oder das Testament.
Die Moderatoren Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf haben kürzlich mit einer über siebenstündigen Reportage auf ProSieben das Thema Pflege in den Mittelpunkt gerückt und es unter dem Hashtag #Nichtselbstverständlich auch auf die Tagesordnung sozialer Netzwerke gesetzt.
Den Senderangaben zufolge sahen allein über 17 Millionen jüngerer Zuschauer die Sendung "Joko & Klaas gegen ProSieben", in dem die Fach-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin Meike Ista einen Arbeitstag lang mit der Kamera begleitet wurde und viele weitere Pflegende zu Wort kamen.
Eigentlich wurde über den Pflegenotstand schon fast alles gesagt. Auch wir von der SIEDA haben uns in Blog-Artikeln wie Woher kommt der Pflegenotstand? oder Viva la Pflege! sowie in Beiträgen zur Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) bereits eingehend damit beschäftigt.
So simpel die der Sendung zugrunde liegende Idee sein mag, so intensiv wirkte sie: Keine schnellen Schnitte, keine Werbeunterbrechungen: die Zuschauer erlebten den Arbeitsalltag in der Pflege aus der Ich-Perspektive.
Auch die individuellen Aussagen der eingeblendeten Pflegekräfte entwickelten mehr Kraft als jede Statistik. Sie berichteten von ihrem Engagement und ihrer beruflichen Motivation, aber auch von altbekannten und neueren Missständen im Pflegebereich.
Manche von ihnen glauben nach Jahren des Anmahnens und Abwartens nicht mehr an deren Abhilfe. 9.000 ihrer Kollegen haben im Verlauf des letzten Jahres die Konsequenzen gezogen und ihren Pflegeberuf gekündigt.
Dies spiegelt die Situation innerhalb der Branche: Einer aktuellen Untersuchung des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK) zufolge erwägt jede dritte Pflegekraft einen beruflichen Wechsel. Viele halten nur noch aus Pflichtbewusstsein durch. Sie haben ihren Ausstieg aus der Pflege lediglich auf die Zeit nach Corona aufgeschoben. Die Pandemie beschleunigt also derzeit trotz erschwerter Arbeitsbedingungen den Fachkräftemangel nicht unbedingt, sondern bremst ihn ironischerweise sogar vorübergehend ab. Nicht aber den Frust.
Zwar genießen Pflegekräfte wegen ihrer engagierten Einstellung zu ihrem Beruf große Anerkennung innerhalb der Gesellschaft. Sie gelten als "Überzeugungstäter", weil sie ihre Arbeit als sinnvoll und erfüllend empfinden.
Die physischen und psychischen Belastungen ihres Jobs nötigen uns allen viel Respekt ab und wären vielen Menschen in Deutschland selbst bei besserer Bezahlung nicht zumutbar.
Patienten behandeln, Senioren pflegen, Sterbenden die Hand halten. Im Schichtbetrieb und unter oftmals stressigen Voraussetzungen. Dazu seit einem Jahr unter Corona-Bedingungen inklusive erhöhter Ansteckungsgefahr.
Eine eindrucksvolle Schilderung der Belastungen im Pflegebereich lieferte dieser Tage der Intensivkrankenpfleger Ricardo Lange, der regelmäßig zu diesem Thema twittert und in einer Kolumne schreibt, als Gastredner auf der Bundespressekonferenz. Ohne jegliches Pathos, aber mit klaren Worten beschrieb er seinen Arbeitsalltag, der schwere körperliche Arbeit in luftdichter Schutzkleidung ebenso vorsieht wie das Begleiten todkranker Patienten in deren letzten Lebenstagen, die sich pandemiebedingt nicht mehr angemessen von ihren Angehörigen verabschieden können. Und er appellierte an die Gesellschaft und die Politik, sich nicht in extremen Meinungen zur Corona-Lage zu verlieren, sondern gemeinsam einen Mittelweg zu finden, um als Gemeinschaft funktionsfähig zu bleiben und unsere ohnehin eingeschränkten sozialen Kontakte behalten zu können.
Die Regeln der Marktwirtschaft – und damit des Arbeitsmarktes – finden bei Pflegekräften allerdings scheinbar keine Anwendung. Während Fachkräfte in der freien Wirtschaft ihre Gehälter teilweise selbst aushandeln, ringt die Pflegebranche um einheitliche und steigende Löhne, als sei der Fachkräftemangel, ja, überhaupt ein Mangel an Pflegekräften gar nicht vorhanden.
Zwar wurde im Jahr 2020 aufgrund der "Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche" durch eine Pflegemindestlohnkommission ein bundeseinheitlicher Mindestlohn für die Branche beschlossen. Die Löhne von Pflegekräften in der Altenpflege differieren allerdings noch immer stark je nach Arbeitgeber und Region.
Abhilfe in der Altenpflege hätte der zwischen der Gewerkschaft Verdi und dem Arbeitgeberverband BVAP ausgehandelte, flächendeckende Tarifvertrag schaffen können. Um diesen umsetzen zu können, wäre laut Gesetz die Zustimmung der kirchlichen Träger Caritas und Diakonie erforderlich gewesen, die in der Altenpflege zusammen rund 300.000 und damit mehr als ein Viertel der dort tätigen Pflegekräfte beschäftigen. Während sich jedoch die Diakonie eines Votums enthielt, lehnte die Caritas den Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags ab. So bleibt also erstmal alles beim Alten.
Es passt ins Bild, dass im vergangen Jahr die Finanzierung der Corona-Prämien erst heiß diskutiert wurde und diese später nur einem Teil der unter erhöhter Gefahr arbeitenden Pflegekräfte ausgezahlt wurden. Ihre Kollegen, in deren Pflegeheim oder Krankenhaus möglicherweise ein oder zwei Corona-Patienten weniger versorgt wurden oder die über Zeitarbeitsfirmen beschäftigt sind, mussten sich derweil mit Applaus, Plätzchen oder Christstollen begnügen.
Natürlich sind es nicht die Prämien, die pflegende Menschen in ihrem Job halten oder sie diesen ergreifen lassen. Es ist ihr Berufsethos: der Wunsch, anderen Menschen zu helfen. Doch auch das größte Engagement leidet, wenn man innerhalb einer 12-Stunden-Schicht um das Leben und die Genesung von Patienten ringt, die Ansteckungsgefahr mit dem Tragen von Schutzkleidung und dem Desinfizieren von Gegenständen niedrig hält - und auf dem Heimweg in eine polizeibegleitete Massendemonstration gegen Schutzmaßnahmen gerät.
Längst geht es nicht mehr nur um zu geringe Löhne und zu belastende Arbeitsbedingungen in der Pflegebranche. Aber eben auch.
Laut einer Daten-Sonderauswertung der Bundesagentur für Arbeit (BA) aus dem Jahr 2019 lag der Lohn bei einem Drittel der Pflegekräfte und bei 15 % der Pflegefachkräfte in der Altenpflege unterhalb der Niedriglohnschwelle von 2.203 Euro brutto im Monat.
Der Präsident des Deutschen Pflegerates, Franz Wagner, hat daher ein Einstiegsgehalt von 4.000 Euro für Pflegefachkräfte als angemessene und gegenüber anderen Berufsgruppen konkurrenzfähige Entlohnung angeregt. Er möchte damit auch "Pflegende motivieren, ihre Teilzeitstellen aufzustocken oder in den Beruf zurückzukehren."
Neben höheren Löhnen fordert er unter anderem auch einen besseren Gesundheitsschutz und ein bundeseinheitliches Bemessungsverfahren, um die Personalbestände aufstocken zu können.
Einen weiteren Vorstoß hin zu einem einheitlichen Tarifvertrag für Pflegekräfte in der Altenpflege unternahm jüngst Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Sein "Gesetzentwurf für ein Pflege-Tariftreue-Gesetz" macht Tariflöhne zur Bedingung für Abrechnungen mit der Pflegeversicherung. "Betreiber von Pflegeeinrichtungen bekommen nur dann Geld aus der Pflegeversicherung, wenn sie ihren Beschäftigten Tariflöhne zahlen", so Heil. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte in seinem Entwurf zur Reform der Pflegefinanzierung bereits angeregt, in Zukunft nur noch Pflegedienste und Pflegeheime zuzulassen, die nach Tarif oder tarifähnlich bezahlen.
Die Realität sieht derzeit anders aus. Während der Pandemie wurden im Pflegebereich teilweise Arbeitszeit- und -schutzgesetze sowie Pflegepersonal-Untergrenzen ausgesetzt, um Mehrarbeit und durchgearbeitete Wochenenden zu ermöglichen. Alte, vorerkrankte und sogar positiv getestete Mitarbeiter mussten zum Dienst erscheinen, weil sie nicht abkömmlich waren. Im Berliner Humboldt-Klinikum durften sich die Beschäftigten nach einem Ausbruch der Coronavirus-Mutation B.1.1.7. innerhalb einer Pendelquarantäne im Januar 2021 nur zwischen der Klinik und ihrem Zuhause bewegen. Essen, schlafen, arbeiten.
Ein anderes bekanntes Berliner Klinikum – die Charité – stockte vorübergehend den Personalbestand im Pflegedienst durch Flugbegleiterinnen auf, die sich in Kurzarbeit befanden. So konnten Fachpflegekräfte entlastet werden und die Intensivstationen unterstützen.
Viele Lösungen sind und waren improvisiert und dem Corona-Virus geschuldet. Doch auch unabhängig vom Pandemiegeschehen fehlt es seit langer Zeit an vielem. An besserer Qualifikation durch Aus- und Fortbildung zum Beispiel oder an der Übertragung von Verantwortung.
"Weil die Pflege ein Assistenzberuf ist, müssen Ärzte fast alles erstmal abnicken", so die Professorin Henrikje Stanze von der Hochschule Bremen. Da Pflegekräfte jedoch eigene Kompetenzbereiche haben, wird an ihrer Fakultät seit dem Wintersemester 2019/2020 Deutschlands erster international anerkannter Vollzeit-Pflegestudiengang angeboten.
Das auf acht Semester ausgelegte Studium mit dem Abschluss Bachelor of Science umfasst Theorie- und Praxisphasen und ein verpflichtendes Auslandssemester. So erhalten Studierende Einblick in die Organisation anderer Länder und Wissen über dort übliche Hilfsmittel und Behandlungsmöglichkeiten. Da der Studiengang international angelegt ist, können auch ausländische Studierende ihn besuchen – und so den Einstieg in die deutsche Pflegebranche finden.
Apropos akademische Hilfe aus dem Ausland: Über die Versuche des Bundesgesundheitsministeriums, ausländische Pflegekräfte im Kosovo und in Mexiko anzuwerben, hatten wir in unserem Blog-Beitrag Viva la Pflege! berichtet. Und für ein Miteinander der Nationen und Kulturen bei der gemeinsamen Arbeit geworben. In dem Artikel wurde auch geschildert, dass gerade osteuropäische Fachkräfte mit Studienabschlüssen beim Anwerben bevorzugt werden.
Dazu müssen Pflegeberufe allerdings künftig mehr Anreize bieten. Bereits heute fehlen in Pflegeheimen 120.000 zusätzliche Vollzeit- oder 200.000 Teilzeitstellen, wie der Gesundheitsökonom Prof. Heinz Rothgang vom SOCIUM Forschungszentrum der Universität Bremen im Auftrag der Pflegekassen, Sozialhilfeträger und Berufsverbände errechnet hat. "Der Markt ist komplett leer gefegt", so sein Fazit. "Die andere Hälfte des Notstands ist aber, dass es im Pflegebereich viel zu wenig Stellen gibt."
Diesem Manko trägt man mit dem Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG) Rechnung, welches einen Bundeszuschuss von 5 Milliarden Euro für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die Schaffung von 20.000 zusätzlichen Stellen für Pflegehilfskräfte vorsieht. Es stützt sich auf ein Verfahren zur Errechnung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen, das am SOCIUM Forschungszentrum erarbeitet wurde.
Der personelle Mindestbedarf in klinischen Bereichen orientiert sich bereits seit 2019 an der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV), die wir in eigenen Blog-Artikeln wie PpUGV 2021: Was ist neu? behandelt haben. Für die Bereiche Psychiatrie und Psychosomatik wurde durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) die Richtlinie PPP-RL herausgegeben. Gute Dienstplan Software bezieht die Personaluntergrenzen automatisch in die tägliche Planung mit ein – so wie der OC:Planner der SIEDA GmbH.
Rasches Handeln ist nötig, wie Studien beweisen. So hat das Berliner Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) deutschlandweit knapp 2.000 Pflegeexperten aus Pflegeheimen und ambulanten Diensten befragt, inwieweit sich deren Arbeitsbedingungen während der Corona-Pandemie verschlechtert haben. 40 Prozent der Befragten klagten über eine Zunahme der körperlichen Belastung. Die psychische Belastung sei gar um bis zu 65 Prozent gestiegen. Grund für die Mehrbelastung in der stationären Pflege seien zusätzliche Aufgaben, die im Zuge der Pandemie angefallen seien.
In einer anderen Studie der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg (HAW) berichteten bis zu 84 Prozent der befragten Pflegekräfte von Personalmangel, Überlastung und dem aus Zeitnot resultierenden Wegfall pflegerischer Tätigkeiten wie Körper- und Mundpflege von Patienten oder der Vorbeugung von Thrombosen oder Infektionen. Darüber hinaus gehen zwei Drittel der Pflegenden täglich mit der Angst zur Arbeit, sich und ihre eigene Familie mit dem Corona-Virus anzustecken.
Schätzungen zufolge entfielen auch vor der Pandemie auf 100 freie Stellen in der Altenpflege gerade mal 27 Bewerber. Am Ende wird nur jede fünfte Stelle besetzt. Und das dauert im Durchschnitt ein halbes Jahr. Sechs Monate, in denen Patienten schlechter versorgt werden, als es ihnen zusteht. In denen Pflegekräfte täglich ein Plus auf ihre Schicht packen, ein Plus an Arbeit, an Zeit, an Menschlichkeit, an Würde.
Es ist an der Zeit, dieses Plus zu honorieren. In Form von zusätzlichen Pflegekräften, von besserer Aus- und Fortbildung, höheren Löhnen und beruflichen Perspektiven. In Form von Respekt.
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Gerne beziehen wir in unseren Blog diejenigen ein, für und über die wir schreiben. Wie etwa bei unserem letzten Bericht über das Projekt FAIR des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) Rhein-Nahe.
Wir recherchieren nicht nur sorgfältig, sondern befragen auch Beteiligte und Betroffene, greifen deren Wortmeldungen auf Social Media Plattformen auf und fassen für Sie Meinungen und Tendenzen zusammen.
Alle Oberpfleger ( Arbeitsalltag muss unangemeldet überprüft werden) und Büropersonal zum Mitarbeit bei Personal Mängel schriftlich Verpflichten. Karriere am Patient , wie in de Schweiz einführen.
Alle Mitarbeiter dass ständig ausfallen , welche am längste im Station sind zuerst, zum Rapport bestellen und Vorschläge zum Station Wechseln diskutieren ,ohne den Personalrat Einmischung!
So kommen Verbesserungen Einwandfrei!
Renato Maruca
Stuttgart